
Jean Gebser (1905–1973) hat ein ebenso umfangreiches wie beziehungsreiches Werk hinterlassen, das Gedichte, Erzählungen, literarische Übersetzungen, Tagebuchaufzeichnungen, Notizen, Aphorismen, Essays, Vorträge, Vorlesungen und philosophische Schriften umfasst. Es ist heute in einer Auswahl als fünfbändige Werkausgabe verfügbar, die vom Verlag Chronos (Zürich) betreut wird.
Es ist Gebsers Philosophie des Bewusstseins, die seit Jahrzehnten beständig neue Leserinnen und Leser findet. Sein zweibändiges Hauptwerk Ursprung und Gegenwart (1949/53) ist außerdem in einer englischen und einer spanischen Ausgabe verfügbar.
The Ever-Present Origin, Authorized translation by Noel Barstad with Algis Mickunas, Athens: Ohio University Press, 1985 (e-book 2020).
Origen y presente, Traducción: J. Rafael Hernández, Girona: Ediciones Atalanta, 2011
Was zeichnet Gebsers Philosophie aus?
1.Gebsers Philosophie des Bewusstseins ist nicht in Auseinandersetzung mit einer philosophischen Strömung oder einer philosophischen Autorität, die im akademischen Universitätsbetrieb etabliert ist, entstanden. Gebsers pionierhaft-originäres Philosophieren gründet in der Lebenserfahrung eines geübten Reisenden, der als feinsinniger Beobachter und Wahrnehmender in der Welt unterwegs war. Dabei überwand Gebser mehr und mehr sein Gefühl der Heimatlosigkeit und sein Empfinden von Unhiesigkeit.
Gebser war Dichter und literarischer Übersetzer, der über das Dichten, das Übersetzen und seine Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Sprache“ sowie mit Dichtern (v. a. Rilke, Hölderlin, Lorca, Guillén, Aragon, Valéry, T. S. Eliot) zum Philosophieren fand. Das philosophische Werk ist erst in Gebsers zweiten Lebenshälfte entstanden, die er größtenteils in der Schweiz verbrachte. Der Sache nach ist Gebsers Philosophie des Bewusstseins nicht nur ein Beitrag zur Kulturphilosophie, sondern zugleich auch ein Beitrag zur philosophischen Hermeneutik (Kunst des Verstehens), wie sie Hans-Georg Gadamer entworfen hat.
2.Gebsers Hauptwerk Ursprung und Gegenwart zeugt von einer ungeheuren Belesenheit und von geisteswissenschaftlichem Universalismus. Gebser nimmt darin auf Einsichten und Erkenntnisse zahlreicher Wissenschaften und Künste Bezug. Er ist bereits von seinen Zeitgenossen als ein „Anreger von hohen Graden“ (J. R. von Salis) wahrgenommen worden und er ist es bis heute geblieben. Seine beziehungsreiche und vielschichtige Philosophie des Bewusstseins inspiriert Forschende unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, aber auch Menschen, die in den Künsten und anderen gesellschaftlichen Bereichen schöpferisch tätig sind.
Gebsers Philosophie ist gewissermaßen eine Einladung zu interdisziplinären Gesprächen. Sie eröffnet außerdem eine transdisziplinäre Perspektive und bietet zugleich eine fundierte phänomenologische Grundlage zum fruchtbaren Austausch über folgende zentrale Frage: Was bedeutet Menschsein im 21. Jahrhundert?
3.Gebsers visionäre Philosophie verdeutlicht das Gemeinsame, uns Menschen Verbindende, ganz egal wo wir auf der Erde leben und unabhängig von uns vertrauten identitätsstiftenden Faktoren, wie Geschlecht, Familie, Milieu, Nation, Religion und Kultur. Das uns Menschen Verbindende ist nach Gebser das beständig sich wandelnde Bewusstsein im Sinne einer sich fortwährend wandelnden verstehenden Seinsweise. In Ursprung und Gegenwart unterscheidet Gebser fünf Strukturen des Bewusstseins: das archaische Bewusstsein mit seiner kosmischen Allbezogenheit, das ichlose magische Bewusstsein, das wirhafte mythische Bewusstsein, das ichhafte mentale Bewusstsein und das ichfreie integrale Bewusstsein.
Die von Gebser entworfenen Bewusstseinsstrukturen sind als verschiedene Konstellationen des Verstehens allen Menschen eigen und jedem von uns mehr oder weniger vertraut. Sie verdeutlichen Grundlagen des menschlichen Welt- und Selbstverstehens und eröffnen uns Menschen Möglichkeiten zur Verständigung in einem umfassenden und zugleich tiefgründigen Sinn. Denn die fünf Bewusstseinsstrukturen ermöglichen uns eine ungeheure Fülle sinnhafter Erfahrungen des Menschseins. Gebsers Philosophie eröffnet uns nicht zuletzt ein Verständnis von der menschheitlichen Dimension unserer Existenz.
4.Gebser verdeutlicht in Ursprung und Gegenwart, dass sich das Bewusstsein – und damit das menschliche Welt- und Selbstverstehen – im Laufe der Menschheitsgeschichte mehrmals in einem grundlegenden Sinn gewandelt hat. Gebsers zentraler These gemäß erfolgt in unserer Zeit wiederum ein solch grundlegender Bewusstseinswandel. Er ist vergleichbar mit dem Wandel vom Mythos zum Logos um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, der dem Menschen ein völlig neuartiges Welt- und Selbstverstehen eröffnet hat. Nach Gebser vollzieht sich heute der Wandel vom ichhaften mentalen Bewusstsein zum ichfreien integralen Bewusstsein.
Ein solch grundlegendlegender Wandel birgt vielfältige Gefahren, vor denen Gebser konsequent warnt. In diesem Kontext ist wichtig, dass er zwischen effizienten und defizienten Formen des Bewusstseins unterscheidet. In den effizienten Formen entfalten sich die schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten des Bewusstseins, in den defizienten Formen geschieht hingegen eine Gefährdung des Lebens. Vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens, den immer größer werdenden Herausforderungen (Kriege, Massenmigration, Klimawandel, Energiewende, Ressourcenknappheit), die letztlich die ganze Menschheit betreffen und ihren Bestand bedrohen, zeigt sich die ungebrochene Aktualität von Gebsers Philosophie.
Einen Eindruck von Gebsers Dichtung bietet diese Auswahl. Und im hier zugänglichen 2. Kapitel von Ursprung und Gegenwart (1949) thematisiert Gebser den menschheitlichen Bewusstseinswandel am Beispiel der unperspektivischen Welt, der perspektivischen Welt und der aperspektivischen Welt, die vom ichfreien integralen Bewusstsein erschlossen wird.