
Jean Gebser führte als Dichter, Übersetzer und Philosoph ein bewegtes Leben im „Zeitalter der Extreme“, wie Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert charakterisierte. (Siehe auch Jean Gebser 1905–1973 – Eine chronologische Skizze.) Er wurde als Hans Gebser am 20. August 1905 im damals preußischen Posen (heute polnisch Poznań) geboren. Sein Vater war Jurist und ein preußischer Beamter, dessen Versetzungen Ortswechsel – Breslau (Wrocław) und Königsberg (Kaliningrad) – zur Folge hatten. Einen Teil seiner Gymnasialzeit verbrachte Gebser in der Klosterschule Roßleben in Thüringen. Nach dem Tod des Vaters verließ er im Frühjahr 1923 ohne Abitur die Schule und absolvierte bis Herbst 1925 eine Lehre zum Bankkaufmann und später Volontariate in einer Berliner Buchhandlung und in einem Buchantiquariat in Florenz. Als außerordentlicher Hörer besuchte er Vorlesungen u. a. von Romano Guardini und Werner Sombart.
Mit Victor Otto Stomps gründete Gebser 1925 eine gemeinsame Druckerei in Berlin und 1926 den Verlag „Die Rabenpresse“. Sein Debüt als Dichter gab Gebser 1926 als Autor der Literaturzeitschrift Der Fischzug, in der auch Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Kurt Heynicke, Paul Zech u. a. publizierten. In der Rabenpresse erschienen in den 1930er Jahren Gebsers Bände Zehn Gedichte (1932) und Gedichte eines Jahres (1936).
1931 hatte Gebser gemeinsam mit seinem Partner Roy Hewin Winstone Deutschland endgültig verlassen; sie bereisten Frankreich und Spanien, wo Madrid zum neuen Lebensmittelpunkt wurde. Gebser zählte zum Freundeskreis spanischer Dichter – Federico García Lorca, Luis Cernuda, Jorge Guillén, Pedro Salinas u. a. –, die der sogenannten Generation 27 angehören. Eine Auswahl ihrer Gedichte übersetzte Gebser ins Deutsche: Neue spanische Dichtung (1936). Seinem ermordeten Dichterfreund Lorca widmete Gebser das Buch Lorca oder das Reich der Mütter (1949). Sein Buch Rilke und Spanien (1940) hatte er ursprünglich auf Spanisch verfasst, das infolge des Spanischen Bürgerkriegs jedoch unveröffentlicht blieb. Gebser flüchtete im Herbst 1936 nach Paris, wo er in Kontakt u. a. mit Pablo Picasso, Nancy Cunard, Louis Aragon, Paul Éluard und André Malraux stand.
Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs reisten Gebser und Hewin Winstone 1939 in die Schweiz, die ihnen zur Wahlheimat wurde. Gebser lernte 1941 die Malerin und Pianistin Gentiane Schoch kennen; sie heirateten 1942 (die Ehe wurde 1956 geschieden) und übersetzten gemeinsam Theaterstücke von Thornton Wilder und T. S. Eliot ins Deutsche. Außerdem veröffentlichte Gebser 1945 drei Gedichtbände: Das Ariadnegedicht, Das Wintergedicht und Gedichte 1924–1944. Das junge Ehepaar war 1943 nach Moscia bei Ascona gezogen, wo jeweils im Sommer die interdisziplinären Eranos-Tagungen mit prominenten Referenten stattfanden. Gebser war u. a. mit C. G. Jung, Karl Kerényi, Wilhelm Szilasi und Adolf Portmann in Kontakt und mit Jean Rudolf von Salis, Hans Kayser, Emil Ludwig, Wladimir Rosenbaum, Aline Valangin, Olga Fröbe-Kapteyn u. a. befreundet.
In diesem anregenden Umfeld im Tessin begann Gebser seine Philosophie des Bewusstseins auszuarbeiten. Zu ihren Vorarbeiten zählen die Bücher Abendländische Wandlung (1943) und Der grammatische Spiegel (1944), aber auch die beiden Sinngedichte von 1945 sowie Gebsers 1947 aufgenommene Lehrtätigkeit am Institut für angewandte Psychologie (IAP) in Zürich. Gebsers beziehungsreiche und tiefgründige Philosophie des Bewusstseins ist Gegenstand seines zweibändigen Hauptwerkes Ursprung und Gegenwart, das seit seinem Erscheinen 1949/53 ununterbrochen im Buchhandel erhältlich ist. Nach Gebser wandelt sich das menschliche Bewusstsein in unserer Zeit in einem grundlegenden Sinn. Diese These diskutierten seit den 1950er Jahren namhafte Gelehrte und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, wie beispielsweise Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, Adolf Portmann, Arthur Jores, Alexander Mitscherlich, G. R. Heyer, Arnold Gehlen, Max Bense, Walther Tritsch, J. R. von Salis, Karlfried Graf Dürkheim und Lama Anagarika Govinda.
Gebser unternahm 1961 eine ausgedehnte Asienreise, deren Beobachtungen und Erfahrungen Gegenstand seiner Asienfibel (1962) und der erweiterten Fassung Asien lächelt anders (1968) sind. 1962 erschienen von ihm zwei weitere Bücher: In der Bewährung sowie Angst – Ursachen, Symptome, Überwindung. Gebser bestritt seinen Lebensunterhalt nicht zuletzt mit intensiver Vortragstätigkeit, die, neben der Schreibarbeit, zu chronischer Überarbeitung und Erschöpfung führten. Im Herbst 1966 folgte ein schwerer gesundheitlicher Zusammenbruch, von dem sich Gebser nicht mehr erholen sollte. 1967 erhielt er an der Universität Salzburg eine Honorarprofessur für vergleichende Kulturlehre, doch krankheitsbedingt blieb ihm eine Lehrtätigkeit in Österreich versagt. 1970 erschien mit Der unsichtbare Ursprung Gebsers letztes zu Lebzeiten publiziertes Buch. 1968 hatte Gebser Johanna (genannt „Jo“) Schneeberger kennengelernt, die 1970 seine zweite Ehefrau wurde. Jean Gebser starb am 14. Mai 1973 in Wabern bei Bern.
Die 2003 publizierte Biografie Jean Gebser (1905–1973) – Ein Sucher und Forscher in den Grenz- und Übergangsgebieten des menschlichen Wissens und Philosophierens ist seit 2021 vergriffen. Derzeit schreibt Elmar Schübl an der neuen Biografie Es will vieles werden – Jean Gebser 1905–1973, die im Herbst 2026 im Verlag Chronos (Zürich) erscheinen soll.