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Lesetipps


Marc Wittmann:
Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens.

Marc Wittmann kennen wir von der Gebser-Tagung 2012, an der er das Schlussreferat unter dem Titel: «Gefühlte Zeit und Körperzeit: Wie Zeitbewusstsein entsteht» gehalten hat. Sein Vortrag ist ein Zusammenzug wichtiger Aspekte seines Buches «Gefühlte Zeit». Es lohnt sich aus verschiedenen Gründen, dieses Buch zu lesen.

Auf unterhaltsame, leicht fassbare Art wird prägnant und ohne unnötige Schnörkel dargestellt, was in experimenteller Psychologie und in der philosophischen Diskussion der heutige Stand des Nachdenkens über die Zeit ist.

Der Fokus des ganzen Buches liegt auf der Erfahrung der Gegenwart. Wittmann geht von der These Augustins aus, dass es eigentlich nur die Gegenwart gebe: die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Gegenwart und die der Zukunft. Interessant sind die Erklärungen zum Zeitparadox: Dass wir öde Gegenwart in der Gegenwart als lang empfinden, im Rückblick aber als kurz, wenn nicht als inexistent, dass wir aber erfüllte Gegenwart als kurz erleben, in der Erinnerung aber als lang empfinden. Wobei am Ende das Paradox sich auch aufheben kann: Dass nämlich intensiv erlebte und gelebte Gegenwart bereits in der Gegenwart als lang, aber nicht unangenehm lang, erlebt wird und auch in der Erinnerung als lang, bzw. als reich präsent bleibt. Dass auf der anderen Seite unterhaltsame Zeit blosser Konsumberieselung zwar in der Gegenwart als kurzweilig erlebt, aber im Rückblick als wie nicht gelebt, nicht vorhanden erscheinen kann. Da gibt Wittmann, der sich zwar in mehreren Statements seines Buches dagegen verwahrt, ein Ratgeberbuch zu schreiben, doch eine Empfehlung aus gewonnener Einsicht: Je intensiver wir leben, d.h. je präsenter wir auch körperlich, sinnlich da sind, desto «länger», d.h. umfassend-reicher wird unsere Leben.

Damit wird dann auch von Wittmann die landläufige und auch in der Literatur ständig kolportierte Meinung, dass je älter man werde, die Zeit schneller vergehe, relativiert, eine Meinung, die ja vor allem die älteren Menschen immer wieder seufzend wiederholen. Es ist nicht notwendig so, dass uns die Zeit immer mehr zwischen den Händen zerrinnt und das Leben, je älter wir werden, desto mehr wie im Fluge vergeht. Je monotoner und leerer das Leben, desto beschleunigter die Zeit, je weniger wir da sind, leibhaft da sind, desto mehr ist es tatsächlich so, dass das Leben der blossen Wiederholung zum huschenden Schatten wird und schon vorbei ist, bevor es begonnen hat.
Zeiterfahrung ist aus der Sicht von Wittmann primär ganz physisch-körperlich erfahrbar, es ist der gegenwärtige Körper, der Leib, der unser Zeitwahrnehmungsorgan ist. Zeit an sich ist nicht erfahrbar, aber Köperzeit schon, wenn wir auf den Körper achten, dann achten wir auf unseren «Zeitmesser». Im letzten Teil des Buches geht Wittmann auf diesen Aspekt ein, der ihm besonders wichtig ist. Wenn wir da sind, anwesend sind, sind wir am meisten mit dem kostbaren Stoff der Zeit im Kontakt. Mit Experimenten der Hirnforschung, an denen der Autor selbst mitgewirkt hat, belegt Wittmann, dass der Körper und seine Signale (wie z. B. der Herzschlag und Puls z. B. in Relation zur Menge verarbeiteter Impulse aus der Wahrnehmung, die Atemfrequenz etc.) die Basis darstellen für die Integrationsleistung unseres Hirns, damit also erst so etwas wie Dauer oder Gegenwart entstehen kann. Zeit an sich kann nicht erfahren werden, es sind die integrierten, synthetisierten Signale unserer Körpers, unserer Wahrnehmung, welche die Zeit erst erfahrbar machen. Damit verbunden ist auch die interessante Frage, wie eigentlich unserer Zeitwahrnehmung getaktet ist, welche «Auflösung», d. h. Leistungsfähigkeit und Limitierung der Integrationsleistung unseres Bewusstseins die Wahrnehmung von Prozessen und unsere Auffassung von Gegenwart bestimmen. Auch dazu bietet das Buch von Wittmann interessantes Material.

Vieles von dem, was Wittmann über die Gegenwart als Dauer, über die Taktung unseres Gehirns in Bezug auf unsere Wahrnehmung geschrieben hat, ist meines Wissens bereits bei James, später bei Russell und Husserl zu finden, allerdings in sehr komplexen Aufsätzen über die Zeit (vgl. z. B. James und Russell, im Sammelband Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Bei Wittmann sind diese Dinge auf eine leicht fassliche Art dargestellt und mit vielen Versuchen aus der modernen Experimentalpsychologie (z.B. von Pöppel) angereichert und ergänzt. Die meisten Einsichten findet man allerdings im Ansatz bereits bei James oder eben Gebser. Auf Gebser nimmt Wittmann ausdrücklich Bezug, und zwar auf die entscheidenden Sätze aus «Ursprung und Gegenwart»: «‘Ich habe keine Zeit‘ – dieser millionenfache Ausspruch des heutigen Menschen ist symptomatisch. Die ‚Zeit‘ ist, wenn auch vorerst noch in negativer Form, seine große Präokkupation. Der es sagt, glaubt, er spräche von der Uhrenzeit. Wie würde er erschrecken, realisierte er, dass er in dem gleichen Augenblicke auch sagt: ‚Ich habe keine Seele‘ und ‚Ich habe kein Leben‘.»

Zum Schluss möchte ich Wittmann selber zu Wort kommen lassen. Ich zitiere die paar Sätze, mit denen Wittmann seinen Vortrag an der Tagung in Bern beschlossen hat. Ich finde diesen Schluss ebenso so eindrücklich wie der Schluss des Buches, wo er auf die Performance von Abramovic: «The Artist Is Present»verweist. In beiden Schlüssen geht es Wittmann um sein Hauptanliegen: Die intensiv gelebte Gegenwart.

«Jean Gebser interpretierte das ‚Ich habe keine Zeit‘ mit dem eingefügten Zitat: Der es sagt, würde erschrecken, realisierte er, dass er in dem gleichen Augenblicke auch sagt: ‚Ich habe keine Seele‘ und ‚Ich habe kein Leben‘! Was aber bedeutet das ‚Ich habe keine Zeit?‘ im Kontext der oben gesammelten naturwissenschaftlichen Konzepte und Befunde? Wer keine Zeit hat, ist verstärkt zukunftsorientiert (der hat geplante Termine und Geschäfte). Er ist aber auch weniger gegenwartsorientiert. Das Gefühl für Zeit entsteht als das bewusstwerden meines Selbst im gegenwärtigen Moment. Wer keine Zeit hat, der ist sich selbst nicht recht bewusst und er erlebt nicht sinnlich. Unter diesem Aspekt ist jemand nicht ‚bei Sinnen‘. Wer aber kein intensiv und sinnlich erlebtes Leben in der Gegenwart führt, der verliert auch in der Rückschau, sich erinnernd, seine Lebenszeit (‚Ich habe kein Leben‘). Das Leben vergeht im Fluge. ‚Zeit haben jetzt‘ heißt bewusstes Erleben meiner selbst; ‚keine Zeit haben jetzt‘ heißt kein Erleben meiner selbst (‚Ich habe keine Seele‘). Was also ist die Zeit? Retrospektiv ist sie die Erinnerung, Lebenszeit, Erlebniszeit. Im gegenwärtigen Moment als Präsenzzeit ist sie Körperzeit, Gefühlszeit, Zeit meiner selbst. Wer keine Zeit hat, der ist sich selbst nicht gewahr.»

Rudolf Hämmerli


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