Marktplatz

Lesetipps


Verena Stefan
Die Befragung der Zeit
Roman

«Die Welt ist blaugrün. Sie stehen zwischen den Apfelbäumen der Obstwiese und schauen in den Himmel hinauf. Das Summen der Bienen zittert in der Luft …».

So beginnt der neue, 2014 herausgekommene Roman «Die Befragung der Zeit» von Verena Stefan. Und wer da steht, inmitten dieser poetischen Landschaft, ist der Grossvater, Julius Brunner, Arzt, und seine Enkelin Rosa – die beiden eigentlichen Hauptpersonen dieses Buches, dessen Inhalt aber neben den durchaus poetischen Teilen harte und unerbittliche Realität darstellt. Die Autorin betitelt ihr Werk als «Roman». Es enthält aber über weite Teile Erinnerungen an ihre Herkunftsfamilie und eigene Kindheit, und das enge Verhältnis mit ihrem Grossvater geht durchaus auf kindliches Erleben zurück.
Verena Stefan ist in «unseren» Kreisen (in den Gebser-Kreisen) keine Unbekannte. Die 1947 in Bern geborene Dichterin und Schriftstellerin bereicherte die in Bern stattgefundene Gebser-Tagung 2012 mit der Lesung aus dem damals noch unveröffentlichten Manuskript. Sie erzählte in diesem Zusammenhang auch, dass sie im Alter zwischen 16 und 20 bei der Physiotherapeutin Jo Gebser (Ehefrau von Jean Gebser) «atmen, stehen, sitzen und gehen» gelernt habe.
Nach dem Maturitätsabschluss in Bern wurde Berlin für sie zur Wahlheimat. Hier machte sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und Krankengymnastikerin. In der Freien Universität Berlin studierte sie anschliessend Soziologie und Vergleichende Religionsgeschichte.
1975 erschien ihr Erstlingsbuch «Häutungen», das sie mit einem Schlag bekanntmachte und das zu einem Kultbuch der deutschsprachigen Frauenliteratur wurde. Es enthält tagebuchartige Aufzeichnungen zum Beziehungsthema Mann-Frau, und war durch seine radikal feministische Position heftig umstritten. Trotzdem erlebte es zahlreiche Neuauflagen.
In Abständen erschienen weitere Werke (u. a.):
1980: Mit Füssen, mit Flügeln
1987: Wortgetreu ich träume
1993: Es ist reich gewesen
1997: Rauh, frei und wild
2007: Fremdschläfer (hier setzt sich die Autorin mit der Einwurzelung in einen neuen Erdteil und mit der eigenen Krebserkrankung auseinander)
2014: Die Befragung der Zeit (Roman)

Verena Stefan wurde für ihr bisheriges literarisches Schaffen auch verschiedentlich ausgezeichnet. Sie erhielt Buch- und Förderungspreise (u.a. von der Stadt Bern) und von Pro Helvetia. Seit 1998 lebt Verena Stefan in Kanada (Montreal), wo sie zuweilen auch Englisch publiziert.

Zum Inhalt des Romans

Ende der 1940er Jahre gerät in Bernerlanden der Arzt Julius Brunner ins Netz der Justiz. Es hat sich herumgesprochen, dass er illegale Abtreibungen vorgenommen hat – und zwar bei Frauen, die ungewollt schwanger geworden und von ihren Schwängerern verlassen worden waren. Nicht Bereicherung war sein Motiv, sondern Mitleid und Hilfsbereitschaft, auch wenn er wusste, dass er dadurch gegen die Gesetzgebung verstiess. Der alte, herzkranke Brunner wird in der Folge inhaftiert, aber nicht im Gefängnis, sondern in der «Anstalt» Waldau. Hier erlebt er demütigende Monate, u.a. dann, wenn übereifrige «Seelendoktoren» mit ihm die ewigen Assoziationstests durchführen, um damit seinen «verbrecherischen» Trieben auf die Spur zu kommen. Als vermindert zurechnungsfähig wird der todkranke Brunner schliesslich «auf Bewährung» entlassen und kann seine zwei letzten Lebensjahre daheim verbringen, wo das innige Verhältnis zu seiner Enkelin seine letzten Monate etwas aufhellt und wo er mit dieser ernsthafte und tiefschürfende philosophische Gespräche pflegt. – Neben dem Grossvater und Rosa umfasst der Familienclan noch andere Mitglieder: Da ist Brunners Ehefrau Lina und die beiden ungleichen Töchter Alica und Flora – insgesamt starke Frauengestalten, die sich vom Patriarchen Brunner immer wieder herausgefordert, aber auch mit ihm solidarisch fühlen. Und da ist Rosa, die Enkelin, der «Trost» seiner alten Tage, die als nimmermüde Zuhörerin (und auch Fragestellerin) da ist, wenn der unter Asthma und Atemnot leidende Grossvater sie an seinen Vergangenheitsträumen teilnehmen lässt.

In ihrem Roman taucht Verena Stefan tief in ihre Familiengeschichte ein. Im Bernischen Staatsarchiv wurde sie fündig und auch in den Archiven der Waldau. 800 Seiten Akten habe sie im Staatsarchiv durchgearbeitet (Abtreibungspro­zesse), schreibt sie am Ende des Buches, und in der Waldau konnte sie Teile der Krankengeschichte ihres Grossvaters einsehen. Natürlich entsprechen nicht alle Szenen des Buches der erinnerten Wirklichkeit der Autorin, und auch bei den beschriebenen Personen handelt es sich z. T. um Kunstfiguren, die sich im Roman zu einer erdachten Familie zusammensetzen. Selbstverständlich sind auch die Namen aller ProtagonistInnen anonymisiert.

Sehr ausführlich werden die Abtreibungs-Geschichten (aus den vorhandenen Protokollen) referiert – für meinen Geschmack finde ich die Beschreibung der gynäkologischen Details fast ermüdend ausführlich. Im Übrigen kam mir bei der Lektüre der berührenden Frauenschicksale immer wieder Pestalozzis tiefgründige Sozialstudie aus dem Jahre 1783 (!) «Über Gesetzgebung und Kindermord» in den Sinn.

Besondere Perlen des Romans sind für mich die tiefsinnig-naiven und doch ernsthaft geführten Gespräche zwischen dem Grossvater und seiner Enkelin Rosa. Sie verlassen häufig die Ebenen des bloss rationalen Denkens und lassen sich in einer neuen Bewusstseinsdimension ansiedeln: seltsam verklärt, kindlich, aber niemals kindisch. Es geht u.a. um Fragen nach der Zeit, selbst Einsteins Einsichten in diesem Zusammenhang werden thematisiert: Was ist Zeit? Ist sie wirklich eine feste Grösse oder dehnbar? Und was bedeutet es, wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts der klassische Zeitbegriff aufgehoben wurde?

Den Buchdeckel ziert ein riesengrosser schwarzer Ballon, an welchem ein Korb mit ein paar winzigen Menschlein hängt. Grossvater Brunner ist ein leidenschaftlicher Bewunderer der Ballonfahrer-Pioniere (Spelterini!). Einmal in seinem Leben wurde er eingeladen, an einer Ballonfahrt teilzunehmen – für ihn ein unvergessliches Erlebnis:

«Die Landschaft wurde unter ihm weggezogen, er fuhr, er wusste nicht wie, durch die Luft. Sie bewegten sich auf andere Art fort, als mit allen ihm vertrauten Bewegungsarten, dem Pferd, dem Einspänner, der Bahn. Die Zeit verging ihnen wie im Flug. Sie liess sich nicht mit eineinhalb Stunden Bahnfahrt oder zu Pferd vergleichen. Von allen Seiten drückten sich Luftmassen gegen den Ballonkorb; sein Schädel füllte sich mit einem Rauschen, das anschwoll und abebbte. Die Höhe, die Aufregung, die Unendlichkeit des Raums und die Flugbewegung liessen ihn vor Glück beinahe bersten …» (S. 67 f.)

Etwas von dieser Stimmung kommt mir in Stefans Roman entgegen: ein Wolkenflug, der Überblick schafft, ein bisschen entrückt – und doch die menschlich-allzumenschlichen Dinge messerscharf wahrnimmt.

Christian Bärtschi

> zurück zu den Lesetipps