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Wilfried Huchzermeyer: Sri Aurobindo und die europäische Philosophie

Huchzermeyer erbringt in seinem neusten Buch den Nachweis, dass die europäische Philosophie über eine ganze Tradition natur- und geschichtsphilosophischer Modelle verfügt, die den Gedanken von Sri Aurobindo entsprechen. Besonders interessant ist der ausführliche Hinweis auf Schelling, der meist vergessen wird und doch bei weitem über die rationale Dialektik Hegels hinausgeht, welcher die allzu optimistische und gleichzeitig eng-rationale Gleichsetzung von Vernunft und Welt zugrunde liegt. Schelling zeigt wie Gebser und wie Aurobindo, dass der Mensch über die rationale Vorstellung der Welt hinauskommen kann zu einer Bewusstseinskraft, die Schelling die intellektuelle Anschauung, Gebser das Wahrnehmen, Aurobindo den Overmind und schliesslich und darüber hinaus das Supramentale genannt hat.

Das Buch von Wilfried Huchzermeyer ist eine gute Einführung in wesentliche Thesen und Einsichten von Aurobindos Werk. Es geht dabei vor allem um den Gedanken, dass Evolution und Involution einander entsprechen, dass in der Natur das Göttliche sich in immer bewussteren und komplexeren Formen offenbart, sich aber zugleich immer mehr im Natürlich-Materiellen manifestieren will. Dieser Gedanke führt bei Aurobindo zum Paradox, dass Transzendenz und Immanenz sich nicht widersprechen, sondern ergänzen und dass Exkarnation und Inkarnation nicht als gegenläufig, sondern als sich bedingend und ergänzend zu verstehen sind. Kurz: Das Göttliche findet im konkreten Alltag oder gar nicht statt.

Huchzermeyer schreibt gut verständlich und kann auch dem philosophisch Belesenen Interessantes bieten. Weniger interessant sind z.T. die zitierten Aurobindointerpreten, welche die europäische Philosophie nur als Hintergrund und Folie verwenden, um zu zeigen, wie viel umfassender und wahrer die Konzeption Aurobindos ist. Das sei bei allem Respekt vor der offenen, weiträumigen Philosophie Aurobindos gesagt. Ich denke, das ist eine naheliegende Gefahr, der man verständlicherweise schnell erliegt, wenn man davon ausgeht, dass Aurobindo nicht eine Theorie erdacht und rational konstruiert, sondern aus dem Wahrheitsbewusstsein heraus geschrieben hat. Dieser Gefahr der devoten Verehrung erliegt aber der Autor nicht. Er bleibt bei der differenzierten Betrachtungsweise und überlässt dem Lesenden die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die vielschichtige und kontroverse Darstellung von Teilhard de Chardins Konzeption, interessant auch die genaue und tiefsinnige Betrachtung von Gebsers Spätwerk, insbesondere seiner Schrift «Der unsichtbare Ursprung» auf dem Hintergrund von Aurobindos Einsichten. Eine Betrachtungsweise, die der Tatsache gerecht wird, dass Gebser in seinen späten Jahren der Überzeugung war, dass das, was er zu sagen hatte, noch umfassender und gültiger von Aurobindo ausgesprochen worden sei. Das mag stimmen. Ich möchte aber dazu anmerken, dass Gebsers Werk pragmatisch den nächsten Schritt zeigt, der über das bloss Rationale hinausführt. Diesen Schritt können wir nachvollziehen. Bei der Lektüre von Aurobindos Schriften ist der Lesende oft nicht nur gefordert, sondern manchmal auch dadurch überfordert, dass sich die Vision Aurobindos in so weite Fernen, Höhen, Tiefen erstreckt, dass man in dieser Überforderung den Mut verlieren kann, weiterzugehen und diesen nächsten Schritt zu tun. Das muss nicht so sein, aber es kann noch schlimmer sein, dass man nämlich als verehrender Anhänger nur wiederholt, was man selber nicht mehr versteht. Das Buch von Wilfried Huchzermeyer geht nicht in diese Richtung. Es bleibt interessant, öffnet die grossen Räume, die uns Aurobindo öffnen will, ohne uns zu staunenden Anhängern zu degradieren. Wir bleiben Partner in einem interessanten und immer nachvollziehbaren Gespräch. Darum hat mich das Buch auch besonders gefreut.

Rudolf Hämmerli


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